Elias Canetti traf John Heartfield in Berlin

Canetti Die Fackel im OhrElias Canetti (1905 -1994) traf 1928 in Berlin Wieland Herzfelde und John Heartfield und berichtet darüber in seiner Biografie: Die Brüder, in: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931, München-Wien 1980

 

«… Man hielt ihn [Wieland Herzfelde] für ungebunden und fragte sich, woraus er seine Kraft beziehe. Denn er war immer auf dem Sprung, agil und rege, von keinem überflüssigen Wissen belastet, üblicher Bildung abgeneigt, durch Schnuppern informiert, nicht durch abstrakten Lesefleiß, aber dann, wenn es darum ging, etwas herauszubringen, erstaunlich genau, plötzlich eigensinnig wie ein Alter. Beide Haltungen, die knabenhafte und die eines erfahrenen Alten, liefen gleichzeitig nebeneinanderher und sprangen alternierend dort ein, wo sie ihm angebracht schienen. Einen Menschen gab es, der mehr als sein Angehöriger war. Mit diesem verband ihn eine Nabelschnur, die vielleicht gar nicht so geheim war, aber man bemerkte sie lange nicht, weil die Verschiedenheit der beiden so Verbundenen so groß war, als stammten sie von getrennten Planeten: John Heartfield, sein Bruder, der um fünf Jahre älter war.

Wieland war gern weich und gerührt, man hätte ihn für sentimental halten können, was er aber nur zeitweilig war. Er hatte verschiedene Tempi zur Verfügung, die ihm alle natürlich waren, und nur eines davon, das der Rührung, war ein langsames.

Heartfield war immer rasch, seine Reaktionen so spontan, daß sie ihn übermannten, er war mager und sehr klein, und wenn ihm etwas einfiel, sprang er in die Höhe. Er sagte seine Sätze heftig, als fiele er einen mit seinem Sprung an, er summte dann zornig wie eine Wespe um einen herum. Das erste mal erlebte ich das mitten auf dem Kurfürstendamm: ich ging ahnungslos zwischen ihm und Wieland und versuchte diesem, der mich danach gefragt hatte, etwas über Termiten zu erklären: „Sie sind ganz blind“, sagte ich, „und bewegen sich nur in unter irdischen Gängen“- da sprang John Heartfield neben mir hoch und zischte mich an, als wäre ich an der Blindheit der Termiten schuld, vielleicht auch, als hätte ich sie wegen ihrer Blindheit verklagt: „Du Termite du! Selbst eine Termite!“ und nannte mich seither nie anders als „Termite“. Damals erschrak ich, ich dachte, ich hätte ihn beleidigt, ich wußte nicht womit, ich hatte doch nicht ihn als Termite bezeichnet. Es dauerte eine Weile, bis ich erkannte, daß er auf alles, was ihm neu war, so reagierte. Es war seine Art zu lernen, er konnte nur aggressiv lernen, und ich glaube, es ließe sich zeigen, daß das auch das Geheimnis seiner Montagen ist. Er brachte zusammen, er konfrontierte, woran er erst hochgesprungen war, und die Spannung dieser Sprünge ist in seinen Montagen erhalten. John war, meine ich, der Unbedachteste aller Menschen. Er bestand aus spontanen und heftigen Augenblicken. Er dachte nur, wenn er mit einer Montage beschäftigt war. Da er nicht immer an etwas herumrechnete wie andere Menschen, blieb er frisch und cholerisch. Es war schon eine Art von Zorn, womit er reagierte, aber es war kein selbstsüchtiger Zorn. Er lernte nur von dem, was er als Angriff empfand, und um etwas Neues zu erfahren, mußte er es für einen Angriff halten. Andere lassen Neues, an sich abgleiten oder schlucken es wie Sirup. John mußte es wütend schütteln, um es halten zu können, ohne es zu entkräften. Erst allmählich kam ich drauf, wie unentbehrlich diese beiden Brüder füreinander waren.

Wieland kritisierte nie etwas an John. Er entschuldigte sein ungewöhnliches Verhalten nicht, er suchte es auch nicht zu erklären. Es war ihm selbstverständlich, und erst als er von seiner Kindheit sprach, begriff ich was die beiden verband. Sie waren Waisenkinder, zu viert, zwei Brüder und zwei Schwestern, und waren von Zieheltern in Aigen bei Salzburg ins Haus genommen worden. Wieland hatte Glück mit den Zieheltern. Helmut, der Ältere (so hieß John, bevor, er diesen englischen Namen annahm), hatte es schwerer. Sie waren sich immer dessen bewußt, daß sie ihre wirklichen Eltern nicht hatten, und schlossen sich sehr eng aneinander an. Wielands eigentliche Kraft war die Bindung an diesen Bruder. Zusammen faßten sie Fuß in Berlin. Aus Protest gegen den Krieg hatte Helmut seinen Namen offiziell in John Heartfield ändern lassen. Es gehörte Mut dazu, da das noch im Krieg geschah. George Grosz, auf den sie damals stießen, wurde beiden ein gleich naher Freund. Als der Malik Verlag gegründet wurde, war es selbstverständlich, dass John Heartfield die Umschläge für die Bücher entwarf. Sie hatten ihre Familien, sie lebten getrennt, sie bedrängten und beengten einander nicht, aber es gab sie zugleich, im turbulenten, unerhört aktiven Berliner Leben waren beide zusammen da. … »